September 6, 2018 by diana

Menla News 4 – Der Ungrund

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Jakob Böhme: Der Ungrund

 

Einst war nur das Nichts,
das ins Sein wollte.
Da aber am Anfang das Nichts
nichts vor sich hatte,
dem es sich hingeben konnte,
musste es sich verdoppeln.
Der Ur-Sprung geschieht
als Suche nach einem Etwas,
der Ungrund wird zum Grund.
Aus dieser Lust des Lebens
entsteht das Sein,
das Hingabe
und Annahme ist.
Hätte sich das Leben von jeher
nicht gewollt und geliebt,
wäre nichts entstanden. 

 

Jede Gestalt,
die ins Dasein tritt,
ist heilig.
Denn es ist Leben,
obwohl es nicht das Leben ist.
Die Liebe sehnte sich nach Leben –
und schuf.
Durch das Schaffen
wurde aber der Lebenshunger nicht gestillt.
Er wuchs vielmehr, vermehrte sich.
Denn nunmehr tauchte auf
in jedem Tropfen des Lebensozeans
der unendliche Drang
nach Liebe und Geliebtwerden.
Es sehnte sich
alles
nach der ungründigen Unendlichkeit,
aus der es kommt.
So entstand
gleich am Anfang
das Paradoxon:
Die unendliche Liebe
kann
nur in endlicher Gestalt
Wirklichkeit werden. 

 

Ich wollte in diesem Newsletter zwei Gedichte von Jakob Böhme durch die zeitlose Brille der fernöstlichen Philosophie interpretieren. Jakob Böhme (* 1575 in Alt-Seidenberg bei Görlitz; † 17. November 1624 in Görlitz) war ein deutscher Mystiker, Philosoph und christlicher Theosoph. Hegel nannte ihn den „ersten deutschen Philosophen“. Obwohl er nur ein Schuster war, ohne grosse Schulbildung, sind seine Texte Beweise für die unbestrittene Verwirklichung, die er hatte. Geniesse diesen Text und meine Erläuterung dazu… Ich habe versucht, den mystischen Inhalt seiner Gedichte mit einfachen Worten zu formulieren. 

Der erste Text ist inhaltlich sehr zutreffend und beschreibt auf wundervolle Weise die Dreifaltigkeit bzw. was im Buddhismus Kaya (Körper) genannt wird. Gott, der Heilige Geist und Jesus Christus sind Manifestation desselben Geists bzw. der Bewusstheit Gottes so wie der Himmel, die Wolken und der Regen. Der zweite Text ist etwas präziser, beschreibt letztendlich aber auch dasselbe, einfach mit anderen Worten. Die Sprache ist einfach, aber sehr zutreffend. Wenige Mystiker haben diese Tiefe und Einsicht über das göttliche Prinzip erreicht wie er. Ich würde jedem empfehlen, sein Werk zu lesen oder zumindest eine Abhandlung davon (z.B. Jakob Böhme – Das Fünklein Mensch). 

Zum ersten Gedicht:

Einst war nur das Nichts,

das ins Sein wollte.

Das Nichts ist nicht als Nicht-Heit gemeint, sondern als Leerheit bzw. als die ursprüngliche Weisheit, das Ur-Wesen Gottes, das in sich selbst ruht, die Nacht der Bewusstheit, die Materia Prima. Die materia prima ist nicht dinglich, sondern als ein metaphysisches Prinzip zu verstehen und stellt die Möglichkeitsbedingung dafür dar, dass ein und dieselbe Form vervielfacht auftreten kann. Das Sein ruht in sich selber, so wie das Aufkommen des Frühlings seine Wurzeln im Winter hat.

Da aber am Anfang das Nichts

nichts vor sich hatte,

Gott ist handlungsunfähig, da er in sich selbst ruht und damit das Wesen des Friedens und des unbefleckten Gleichmuts darstellt. Es ist aus der Sicht eines Handelnden schwer zu begreifen, wie ein ruhendes Prinzip nichts vorhat, ausser sich selbst zu geniessen. 

dem es sich hingeben konnte, 

musste es sich verdoppeln.

Die Zeitlosigkeit und Unbefangenheit Gottes ist kein Schöpfer, aber schöpferisch in ihren Wesenszügen. Die Verdoppelung versinnbildlicht die Parthenogenese Gottes, der sich selbst befruchtet und damit seines gleichen entbindet. Das ist die Materie Sekunda, sein aktives Potenzial bzw. die Parthenogenese Gottes, auch Jungfernzeugung oder Jungferngeburt genannt. Es ist die Jungfräulichkeit Marias, die den Gottessohn Jesus Christus entbunden hat, um die fühlenden Wesen aus der Verzweiflung der Ich-Haftigkeit zu befreien. Jesus Christus ist die sichtbare Manifestation der Bewusstheit Gottes, die kontinuierlich zum Wohl der Wesen aktiv bleibt, vor allem zum Zeitpunkt des Todes. 

Der Ur-Sprung geschieht 

als Suche nach einem Etwas,

Der Ur-Sprung ist das ungeborene und nicht erschaffene Wesen Gottes, das sich selbst befruchtet, zu seiner eigenen Freude. Die Suche nach einem ETWAS sollte nicht als Sehnsucht oder egoistisches Bedürfnis betrachtet werden, sondern als die Vielfältigkeit des zeitlosen Seins. Jede Welle, die sich subjektiviert hat, sucht nach sich selbst bzw. nach einem zeitlosen Zuhause. Gott dreht sich im Kreis und scheint daran sehr viel Freude zu haben. 

der Ungrund wird zum Grund.

Aus dieser Lust des Lebens

entsteht das Sein,

das Hingabe

und Annahme ist.

Gott ist der Ungrund, in dem die subjektivierten Bilder als Grund erscheinen und der die zeitlose Bewusstheit als Schöpfer mit schöpferischen Handlungen auftreten lässt. Die Parthenogenese ist Glückseligkeit und wird als Lust beschrieben, die Implosion ist der Freude der Vereinigung gleich. Gott lässt die Welt als Schwingungen und Frequenzen entstehen, es sind die Oktaven des Lichts. Hingabe und Annahme sind dem Ozean und den Wellen gleich. Hingabe zu sich selber lässt die Phänomene entstehen und Annahme lässt sie wieder verschwinden. 

Hätte sich das Leben von jeher

nicht gewollt und geliebt, 

wäre nichts entstanden. 

Liebe und Mitgefühl sind die zwei Gesichter Gottes. Das eine wirkt zusammenziehend und das andere ausdehnend und auflösend. 

Liebe hat eine verdichtende Kraft, die die Phänomene erscheinen lässt und Mitgefühl wirkt vermehrend, aber auch auflösend auf die Manifestation. Der Ur-Sprung bleibt immer derselbe, aber wenn die Liebe am Anfang nicht da gewesen wäre, wäre nichts entstanden und die Leerheit wäre eine Nicht-Heit geworden. 

Zum zweiten Gedicht: 

Jede Gestalt,

die ins Dasein tritt,

ist heilig.

Denn es ist Leben, 

obwohl es nicht das Leben ist.

Jede Erscheinung ist heilig, weil alle Erscheinungen aus der zeitlosen Bewusstheit Gottes entstehen, es sind seine Ebenbildern und wir sind daher absolut betrachtet alle Kinder Gottes. Es gibt keine Anderen und die unterschiedlichen Formen erscheinen nur als trügerische Fata Morgana aus der Sicht eines Betrachters, der sich aus Verblendung als getrennt erlebt. 

Die  Präsenz und Liebe Gottes durchdringt auf unermüdliche Weise alles und weil es keine Definition bzw. Konzept gibt, die das Wesen Gottes beschreiben könnte, bleibt das Wesen Gottes verborgen und unverständlich für einen Handelnden, der sich nur zwischen Vergangenheit und Zukunft definieren kann. Zwischen „Leben“ und „das Leben“ ist der Unterscheid so wie zwischen IM und AM Anfang. Das eine ist zeitlos und das andere aus Verblendung zeitlich begrenzt. 

Die Liebe sehnte sich nach Leben –

und schuf.

Die Liebe ist das Wesen Gottes und auch die Leerheit. Leerheit ist keine Nicht-Heit, sondern ein Dasein frei von jeglicher Definition. So wie der Himmel, der die Wolken in ihm entstehen lässt, ist die Liebe Gottes zu sich selbst. Leben wurde aus Liebe erschaffen, daher die Untrennbarkeit zwischen beiden, die zwar als zwei erscheinen, aber aus derselben Quelle entsprungen sind. 

Durch das Schaffen

wurde aber der Lebenshunger nicht gestillt.

Er wuchs vielmehr, vermehrte sich. 

Die Wolken und Wellen entstehen in unaufhörlicher Weise. Sie entstehen und vergehen,  aber das Wesen Gottes bleibt stets unberührt. Der Lebenshunger ist die Bewusstheit  Gottes, die nach wie vor in ihr die Phänomene entstehen lässt. Es gibt keinen Handelnden, keine Täterschaft, keinen Schöpfer oder Schöpfung, weil die Erscheinungen wie Oktaven des Lichtes sind, daher substanzlos und für niemanden da. Es sind Frequenzen der Liebe, die sich umarmen, sowie Regenbogen nach einem Regenguss. 

Denn nunmehr tauchte auf

in jedem Tropfen des Lebensozeans

der unendliche Drang

nach Liebe und Geliebtwerden.

Liebe und Geliebtwerden sind die Kräfte des Lebens, die ursprüngliche Sehnsucht nach Geborgenheit, die sich im tiefen Schlaf manifestiert und im Auslöschen in Gott (Samadhi). Gott ist wie ein Auge, das zwar sieht, aber sich selbst nicht erkennen kann. Daher die Sehnsucht nach seines gleichen in der Vielfältigkeit der Erscheinungen, um sein ursprüngliches Gesicht wieder zu sehen. Das ursprünglich Gesicht Gottes wird durch einen Gottessohn wie Jesus Christus offenbart, darin liegt die Macht des Wiedererkennens. 

Es sehnte sich 

alles

nach der ungründigen Unendlichkeit, 

aus der es kommt.

Jakob Böhme hat die Essenz der Lehre Christi verwirklicht. Nur jemand, der die zeitlose Bewusstheit Gottes erlebt, kann mit einfachen Worten so etwas schreiben. Das ES ist die zeitlose Bewusstheit Gottes, die sich nach sich selbst sehnt. Die Unendlichkeit ist zwar erschreckend für den konditionierten Geist, aber wohltuend für den, der sein Leben im Geist Gottes aufgegeben hat. Er wird den zweiten Tod nicht fürchten. 

So entstand

gleich am Anfang

das Paradoxon: 

Die unendliche Liebe 

kann 

nur in endlicher Gestalt 

Wirklichkeit werden. 

Ja, alles erscheint als ein Paradoxon, eine Widersprüchlichkeit, die sich der Begreifbarkeit entzieht. Es bleibt die Frage nach der Endlichkeit beziehungsweise der Unendlichkeit von Raum und Zeit. Ein unendliches Universum scheint dem gesunden Menschenverstand ebenso zu widersprechen wie ein endliches: „Alles muss doch zu irgendeinem Zeitpunkt angefangen haben…“ – „Aber was war dann davor?“ Gott versteckt sich in allem und sehnt sich nach sich selbst. Die unendliche Liebe Gottes ist wie Narziss, der sich in sein Spiegelbild verliebt und ertrinkt. Dieser Text ist aus der Leerheit entstanden und Buddha hätte sicherlich nicht besser die Raumklarheit beschreiben können als Jakob Böhme es gemacht hat. Die drei Buddhaskörper, der Körper des Raumes (Dharmakaya), der Glückseligkeit (Sambogakaya) und der Manifestation (Nirmanakaya) werden in diesem Text mit einer unglaublichen Präzision und Leichtigkeit zusammengefasst. Es ist nicht die Rede von einem Schöpfer, Schöpfung und vor allem nicht von einem Betrachter, der alles erlebt, sondern von dem zeitlosen Wesen Gottes, das sich selbst auf kontinuierliche Weise befruchtet und alles wieder in sich verschlingt. 

Die verdichtende Kraft der Liebe lässt die Phänomene entstehen und das Mitgefühl lässt sie wieder vergehen. Das ist die systolische und diastolische Phase des Herzens Gottes, des kosmischen Atems… in dem wir leben und sind. Nein, Gott ist nicht in unserem Herzen, sondern wir sind im Herzen Gottes und jeder seiner Atemzüge ist ein Gesang der Liebe, der den Weg nach Hause zeigt. 

Assisi, Oktober 2017
pace e bene, Claude 

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